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Giftpflanze des Monats

Tollkirsche

Von Martha Carli | Oktober 2021

Nachdem Eisenhut zur Ehrenrettung des Bilsenkrauts von dessen quasi militärischen Erfolgen erzählt hatte, blieben die Meinungen geteilt.

„Also ich weiß nicht“, raunte Belladonna ihrem Nachbarn zu. „Steine umdrehen … Soll das etwa eine spektakuläre Wirkung sein?“

„Wir wollen doch nicht abfällig über die armen Verwandten reden, Teuerste“, warf der Stechapfel ein, dem Belladonna einen giftigen Blick zuwarf. „Wir tun hier alle nur unser Bestes. Und im Übrigen … im Wesenskern sind Sie dem armen Cousin Bilsenkraut doch sehr ähnlich.“

Stechapfel wandte sich seiner Cousine direkt zu. „Ich verstehe auch nicht, warum Sie unsere gemeinsame Karriere, ich meine Ihre, meine und Bilsenkrauts so in den Schatten stellen, wenn Sie von Ihren Erfolgen berichten.“ Belladonna schnaubte ungehalten. „Was, Teuerste, ist unehrenhaft daran“, fuhr Stechapfel fort, „für eine ehrenhafte Hexe zu arbeiten. Es ist tausend Mal ehrenhafter als die Arbeit für diese florentinische Gaunerbande.“

Belladonna zischte etwas Unverständliches und raffte geräuschvoll ihre Gewänder zusammen. „Von wegen Verwandte. Das ist doch nichts als dummes Gerede dieser Botaniker. Und was die Hexen angeht … “ Stechapfel lächelte kaum merklich. „Sie sind dran, Teuerste.“

„Tollkirsche?“ fragte der weise Efeu in die Runde. „Auf meiner Liste steht, dass Sie so freundlich sein werden, sich uns vorzustellen, meine liebe Dame. Wenn es Ihnen also nichts ausmacht …“ Efeu lächelte freundlich und machte eine einladende Handbewegung. Ein weiteres Mal rauschten die Gewänder. Seide und nochmal Seide, Samt, Brokat und Spitzen, durchwirkt von Goldfäden und mit feinsten Silberpailletten besetzt. „Von allem zu viel“, dachten die meisten wohl. Aber man kannte die kapriziösen Anwandlungen der Schwester Tollkirsche, die sich – von Natur aus nicht besonders ansehnlich – seit ihrer Zeit bei den Medici den besseren Kreisen zughörig fühlte.

„Ich bevorzuge den Namen Belladonna“, wies sie den Vorsitzenden zurecht, der darauf noch freundlicher lächelte. „Gewiss, meine Liebe, gewiss.“

 „Ich bin ja gelegentlich auch in der Kosmetikbranche tätig, was nur eine Nebenbeschäftigung ist, wie Sie alle wissen. Aber Signore Mattioli war so freundlich, mir diesen wohlklingenden Namen zu geben, nachdem die Damen der Renaissance sich Pflanzensaft in die Augen träufelten, um die Pupillen zu erweitern. Das Glanzauge galt damals als schön.

Eines meiner Haupteinsatzgebiete war Florenz, wo ich im Dienste der Familie Medici äußerst wichtige Aufträge auszuführen hatte. Wie alle großen Familien hatten auch die Medici Feinde, die nicht allzu übermächtig werden durften … da konnte ich helfen. Aber es muss natürlich nicht immer zum Äußersten kommen.“

Belladonna schmunzelte mit kokett gesenktem Kopf. „Sinnestäuschungen hervorzurufen und Schlaf zu spenden, wie Hekate, Kirke und Medea es mit meiner Hilfe taten, ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Jemanden in den Wahnsinn zu treiben, ist eine Kunst. Wie dem auch sei … Von der Flugsalbe haben Sie natürlich gehört, sehr viel schonender als heutige Verkehrsmittel. Und ja, ich habe mit Bilsenkraut und Stechapfel zusammengearbeitet bei der Herstellung dieser Hexensalbe, die nach dem Auftragen direkt unter die Haut ging und dann eben diese umweltschonende Art des Fliegens hervorbrachte. Für die Benutzerinnen wirkte das Erlebnis ganz und gar echt, wie wir aus zahlreichen Quellen wissen.

In den Kräuterbüchern war ich berühmt. Schließlich waren Hexen vor allem Heilkundige, die im Unterschied zu späteren Medizin die schwimmende Grenze zwischen Gift und Arznei ganz genau kannten. Dass Hildegard von Bingen mich so verleumdete, nehme ich ihr bis heute übel … als Nonne hielt sie natürlich nichts von Liebes- und Lustzauber, und dass ich „toll und unsinnig“ mache … na ja …

Das kriminalbotanische Konzil dauert an. Man findet, dass die allgemeine Verwahrlosung auf allen Ebenen ein erschreckendes Ausmaß angenommen hat. Insbesondere ist die Kunst des kultivierten Mordens mit Pflanzengiften gegenüber brutalen und ausgesprochen dummen Methoden ins Hintertreffen geraten. Dem will man entgegentreten. Es wurde uns freundlicherweise erlaubt, an dieser Stelle einige der Konzilsteilnehmer vorzustellen und Ausschnitte ihrer Auftritte wiederzugeben.

Sommergrün, krautig, ausdauernd – das ist die Tollkirsche. Einen halben Meter wird sie hoch, vielleicht auch anderthalb Meter. Die Beeren sind schwarz und süß und ein ganz klein wenig bitter. Ihr Aufbau ähnelt dem der Tomate – die Verwandtschaft ist nicht ganz von der Hand zu weisen, wenn auch Größe und Farbe sich unterscheiden.

Die Tollkirsche trägt glockige, außen braunviolette, innen gelbgrüne Blüten, die sie von Juni bis August zeigt. Dann kommen die Beeren. Sie sehen den Kirschen recht ähnlich, daher der zweite Teil des Namens. Die schwarze „Kirsche“ macht die Menschen toll, was früher wahnsinnig, tobsüchtig oder ganz einfach völlig durchgeknallt hieß. Weitere Namen waren Teufelskirsche, Wolfsbeere und Dollwurz, Mörderbeere oder Apfel von Sodom …

Der Name, den die Botaniker ihr gaben – Atropa belladonna – leitet sich von einer der Schicksalsgöttinnen der griechischen Mythologie ab. Klotho spann den Lebensfaden, Lachesis legte die Länge fest und Atropos schnitt ihn durch.

Die Tollkirsche gedeiht an warmen Waldrändern, an Kahlschlägen und auf Lichtungen in Laub- und Laubmischwäldern. Sie bevorzugt nährstoffreiche Kalk-, Porphyr- und Gneisböden. Verbreitet ist sie in ganz Europa und Teilen Eurasiens.

So toll und unsinnig ...

„So man die beer isset, machen sie denselben menschen so fast toll und unsinnig, als hette jn der teuffel besessen und bringen jn in tieffen unüberwiendlichen schlaff“, schreibt der Arzt und Botaniker Pietro Andrea Mattioli. Verrückt oder tot, das war die Folge bei einer bestimmten Dosierung, die je nach Perspektive danebenging oder erfolgreich war.

Atropin, Scopolamin, Apoatropin, Belladonnin und Scopoletin sind der wirksame Cocktail in der schwarzen Tollkirsche. Sie hemmen den Parasympathicus, der an der unwillkürlichen Steuerung der meisten inneren Organe und des Blutkreislaufs beteiligt ist. Die tödliche Dosis für Erwachsene sind 10 bis 12 Beeren, bei Kindern nur 3 bis 4 Beeren. Als Gartenpflanze ist die Tollkirsche also nicht unbedingt geeignet – genau so wenig wie übrigens die stark giftige Eibe, die man in älteren und klügeren Zeiten niemals in die Nähe des Hauses pflanzte und die dennoch die bevorzugte Heckenpflanze in den Vorgärten neuerer Stadthäuser ist.

Hat die Tollkirsche mit all ihrem Gift Eingang in den menschlichen Organismus gefunden, wird zuerst der Mund trocken. Die Pupillen erweitern sich, es kommt zu Sehstörungen. Dann wird’s einem heiß. Die Haut ist trocken, gerötet und heiß. Das Herz rast. Ist die Dosis hoch genug, können Halluzinationen eintreten, Erregung bricht sich Bahn, die übergeht in Tobsucht. Unstillbarer Rededrang, Irrereden und Euphorie, Weinkrämpfe, Gefühle von Umnebelung und Bewegungsdrang, schließlich Delirium und Lähmung. Bei schweren Fällen Tod durch Atemlähmung.

Vorsichtig dosiert ...

Die Heilwirkung der Tollkirsche war früheren Heilkundigen ebenso lange bekannt wie ihre tödlichen oder irre machenden Eigenschaften. Damals wie heute wird die Droge bei kolikartigen Schmerzen der Verdauungsorgane und der ableitenden Harnwege eingesetzt, da sie die glatte Muskulatur entspannt. Sie wirkt krampflösend bei Epilepsie und Asthma und wird bei Erkrankungen der Luftwege (Bronchitis, Reizhusten) eingesetzt. Wegen der pupillenerweiternden Wirkung findet sie Anwendung in der Augenheilkunde. In der Schulmedizin wird Atropin unter anderem als Notfallmittel bei zu niedriger Herzfrequenz oder zum Beispiel in der Anästhesie eingesetzt.

In der Homöopathie findet Belladonna als Akutmittel vor allem bei Fieber, Grippe sowie akuten schmerzhaften Entzündungen Anwendung.

Louis Lewin, Die Gifte in der Weltgeschichte, Köln 2000

Dioskurides, De Materia Medica

Pietro Andrea Mattioli
„Commentarii in sex libros Pedacii Dioscoridis“

Deutsche Übersetzung: New Kreüterbuch || Mit den allerschönsten und artlich-||sten Figuren aller Gewechß / dergleichen vor-||mals in keiner sprach nie an tag kommen., übers. von Georg Handsch, Prag 1563

Hieronymus Bock
New Kreütter Bůch von underscheydt, würckung und namen der kreütter so in Teütschen landen wachsen. Auch der selbigen eygentlichem und wolgegründetem gebrauch in der Artznei, zů behalten und zů fürdern leibs gesuntheyt fast nutz und tröstlichen, vorab gemeynem verstand.

Roth Daunderer Kormann, Giftpflanzen – Pflanzengifte, Hamburg 2012 (neueste Auflage)

John Mann, Mord, Magie und Medizin – Aus dem Giftschrank der Natur, Stuttgart 1995

Die Tollkirsche ist ein krautiges Gewächs, das nicht unbedingt durch spektakuläre äußere Schönheit besticht, auch wenn sie uns unter dem Namen Belladonna etwas anderes weismachen will. Wir lernten aber bereits, dass wir ihre inneren Werte zu schätzen haben.

Ralph Günther Mohnnau

Ich pflanze Tollkirschen in die Wüsten der Städte

… es zettelt Revolutionen an
es erfindet neue Ideologien
&! überlistet beide