cropped-k-MC-Kopie.png

Ja, ich weiß, Ihr wollt alle einmal ein bisschen in die Bücher spinxen. Na gut. Ich werde hier und da ein Stück zum Besten geben. In loser Folge und hier und da mit losem Mundwerk.

Leseproben aus der Schelmenrepublik

Inhaltsverzeichnis

Der Weltenlenker oder die Banalität des Bösewichts

Erstes Stück aus Megalopolis

„Die erste Station ist Megalopolis“, beginnt er. „Dort finden wir den Weltenlenker, eine unregistrierte, nicht-evolutionäre Lebensform, die es trotz eines langen Strafregisters geschafft hat, eine Anhängerschaft der automatisierten Mittelschichten um sich zu scharen. Diese Leute sind bereit, über jeden geistigen Abgrund zu springen, wenn der Weltenlenker es ihnen befiehlt.

„Womit lenkt er denn die Welt?“ Die Frage kommt von Rabe, der es sich gerade mit einem Stück Kuchen im Gepäcknetz bequem gemacht hat.

„Mit einer Kurbel“, antwortet Meeker mit Pokerface.

Seht mal dort …“ Einer der Dialektiker kneift die Augen zusammen und schüttelt den Kopf wie einer, der nicht glauben kann, was er sieht.

Der Weltenlenker

Und tatsächlich, das muss er sein, der Weltenlenker. Es ist schwer zu erkennen, wie groß er ist. Als unregistrierte, nicht-evolutionäre Lebensform verändert er ständig seine Erscheinung. Der Anzug scheint grau zu sein, vielleicht auch graublau. Der Schädel ist kahl oder … Moment, ein graublonder Seitenscheitel … oder doch ein schwarzer Raspelschnitt? An seinem Kopf ist deutlich eine Apparatur zu erkennen, die ihre Form behält, wenn er die seine ändert. Der Weltenlenker macht vor einem mannshohen Kasten halt, in dem plötzlich eine große Kurbel steckt, die zuvor noch nicht dort war. Der Weltenlenker muss sie mitgebracht haben. Langsam schleichen wir uns heran, um besser sehen zu können. Nach wie vor sind wir die einzigen Lebewesen auf dem riesigen Platz, und erst jetzt erkennen wir, dass alles mit einer leichten Staubschicht überzogen ist. Im Moment können wir uns dieses Phänomen noch nicht erklären. Die Atmosphäre ist seltsam verhalten, alles wirkt matt. Dann entdecken wir den Grund. Ein Schild in der Nähe fordert uns auf, flach zu atmen, um Sauerstoff zu sparen.

Als wir nahe genug sind, können wir erkennen, dass der Weltenlenker die Kurbel mit beiden Händen ergreift und zu drehen beginnt, so wie man einmal die Autos angeworfen hat. Wir beobachten ihn eine ganze Weile. Rabe lacht in sich hinein und zupft mich leicht am Ohr. Er scheint etwas zu ahnen.

Gelegentlich hält der Weltenlenker inne und horcht. Dazu legt er eine Hand ans Ohr und beugt sich leicht nach unten. Er achtet sorgfältig darauf, dass die Apparatur an seinem Kopf nicht mit dem Kasten kollidiert. Wenn ich es richtig sehe, trägt er im Moment einen graublauen Anzug und ist kahlköpfig. Schließlich scheint er mit der Hörprobe zufrieden zu sein, nimmt die Kurbel aus der Buchse und entfernt sich. Dabei verliert er an Größe und trägt wieder das geschmacklose kleine Karo mit Seitenscheitel.

Der Techniker

Als der Weltenlenker sich weit genug entfernt hat, tritt aus einer Tür auf der Rückseite des Kastens jemand hervor. Dem Kittel nach zu urteilen, scheint er eine Art Techniker zu sein. Verdutzt sieht er sich um, riskiert noch einen Blick nach unten und schickt sich an, die Tür zu schließen. Er ist sichtlich verblüfft, einen Haufen schräger Vögel zu sehen und lächelt scheu.

„Guten Tag“, entbieten wir einen höflichen Gruß. „Wir sind fremd hier“, übernimmt Meeker. „Wir interessieren uns für die Besonderheiten von Megalopolis. Ob wir vielleicht einen Blick in diesen eigenartigen Kasten werfen dürften?“ Der Techniker streicht seinen Kittel glatt und mustert uns mit freundlichem Blick. In seinen Augenwinkeln entdecke ich etwas Verschmitztes, aber ich kann mich natürlich täuschen.

„Bitte sehr, tretet näher“, sagt er. Rabe keckert leise.

Der Techniker öffnet die Tür und lässt uns ins Innere des Kastens eintreten. An einer Wand ist ein Gestänge zu sehen, das offenbar von der äußeren Buchse ins Innere der Anlage führt. Wie gehen ein paar Stufen hinab und sehen eine riesige Maschinenhalle, deren Dimensionen wir nicht einmal ansatzweise ausmachen können. Sie scheint sich im Unendlichen zu verlieren. Die Hallenwände bestehen aus mächtigen Steinquadern, über die Decke ziehen sich schwere Eisenträger mit Kettenwinden und Lederriemen, an denen Material und Maschinen transportiert werden. An den Wänden entlang sind gigantische Maschinen aufgereiht. Sie verursachen infernalischen Lärm. Zwischen den Maschinen laufen Menschen umher, manche mit Klemmbrettern, auf denen sie schreiben, andere mit Werkzeug, wieder andere scheinen in einer endlos sich wiederholenden Bewegung Schrauben anzuziehen und Zahnräder zu schmieren. Die Maschinen bestehen aus dunklem, poliertem Holz, Stahlelementen und Messing. Sie sind übersät mit Schaltern, Buchsen und Anzeigen. Mittels glänzender Rohre sind sie miteinander verbunden. Erleuchtet wird die Halle von bakenden Gaslampen an Wänden und Deckenhalterungen.

Plötzlich beginnen sie zu flackern. Der Techniker pfeift. Dann geschieht das Unvorstellbare.

(…)

Die Agentur für Eindeutigkeit

Nach einigen Minuten betritt der Bürgermeister eine Kirche, die rechterhand an der Straße liegt. Bei näherem Hinsehen entpuppt sie sich als hypermodernes Geschäftshaus, das nur aussieht wie eine Kirche oder vielleicht einmal eine war. Des Bürgermeisters Wachen postieren sich zu beiden Seiten des Eingangs.

Die Agentur für Eindeutigkeit

In den Wandvitrinen, in denen früher vielleicht Gottesdiensttermine und Gemeindenachrichten ausgehängt wurden, werden einige der Angebote angepriesen, die das Haus zu bieten hat. Nachdenklich schüttelt die Dissidentin den Kopf. „Sieh Dir das an“, sagt sie zu ihrem Freund im Netzhemd. „Diesem Schicksal bin ich entronnen.“

Wir drängen uns vor den Vitrinen, können aber nicht alle sehen, was geschrieben steht. „Ich lese vor“, kündigt Meeker an, zieht sein gestreiftes Jackett aus und rückt seine Hosenträger zurecht.

„Handliche Portionen Prinzipienmoral zum Mitnehmen“, liest er. „Preis je nach Abstraktionsgrad. Garantierte Lebensferne gibt es als Extra. Für Großabnehmer wie Kirchen, Parteien, Kommissionen und Universitäten gibt es Rabatte. Unternehmen werden gebeten, Glaubensbekenntnis und Ritualpraxis offenzulegen. Für alle ist ein Nachweis obligatorisch, dass der Gebrauch von Nebelkerzen und Plastikwörtern, die Methode der Umdeutung von Begriffen und im Bedarfsfall die Produktion von Sündenböcken beherrscht wird.“

Meekers Gesichtsausdruck ist noch spöttischer als sonst. „Verkaufsschlager und Sonderangebot zum Dauertiefpreis sind unmissverständliche Eindeutigkeit und ein zugehöriges Set Totschlagargumente auf streng wissenschaftlicher Basis. Im Kleingedruckten steht, dass auch Spezialanfertigungen für den hypermoralischen Amoklauf hergestellt werden, zum Sonderpreis, versteht sich.“ Meeker lässt sich von Dalrymple einen Schluck Kaffee geben, um sich zu stärken.

(…)

Wir schütteln die Gruselgeschichte ab und betreten die Geschäftskirche oder das Kirchengeschäft, wie auch immer. Niemand hindert uns. Das kühle Dunkel des gewölbten Bauwerks umfängt uns. Rabe schüttelt sich und plustert die Federn auf. „Kalt hier“, meint er. „Und dunkel.“ An den Stellen, an denen früher einmal Bänke gestanden haben müssen, steht jetzt gar nichts. An den Wänden des alten Kreuzgangs hängen Porträts des Bürgermeisters, Vexierbilder des Weltenlenkers, Aufnahmen von Menschenansammlungen in Nebel oder Tränengas gehüllt, außerdem einige alte Stiche von brennenden Scheiterhaufen und ertränkten Hexen. Auch dieses Gebäude muss einen Hinterausgang haben, denn wir können den Bürgermeister nirgends entdecken.

Plötzlich steht eine Dame in Ganzkörperbeige vor uns und fragt mit hoher süßer Stimme: „Was kann ich für Sie tun?“

„Wir suchen eine preiswerte Moralausstattung für die nachhaltige und umweltschonende Ausbeutung diverser Zuzügler“, prescht Meeker vor. Die beige Dame lächelt wissend und hebt einen Zeigefinger.

„Da habe ich etwas für Sie“, maunzt sie. „Wie wäre es mit einem Fernsehspot mit Diversity-Zertifikat? Alle relevanten Zuzüglergruppen in einer großen glücklichen Familie vereint. Perfektes Diversity-Washing, geeignet für Moralhaushalt und Gewissenspflege.“

„Und niemand sieht die Realität?“

„Garantiert nicht“, bestätigt die Dame. „Jedenfalls nicht die relevanten Gruppen.“ Meeker schüttelt ihr die Hand. „Hervorragend“, strahlt er sie an. „Wie sieht es mit einer zuverlässigen wissenschaftlich fundierten Eindeutigkeitsproduktionseinheit aus? Und wenn wir beides nehmen, können wir doch auch über den Preis reden …?“ Meeker hat sich bei der Dame untergehakt und flüstert Ihr etwas ins Ohr.

„Oh ja, da haben Sie wieder Glück“, sagt sie mit leicht geröteten Wangen. Die Dialektiker kichern hinter vorgehaltener Hand, was sonst nicht ihre Art ist.

„Unsere Agenturwissenschaftler tanzen auf jeder Hochzeit, wenn der Preis stimmt. Aber das sollte kein Problem sein. Ach, und da ist noch etwas, was Sie interessieren könnte. Heute Abend gibt es in der Akademie einen Workshop, wie man mangelnde Kenntnisse durch zielgruppenspezifische moralische Empörungsrhetorik überspielt. Ist nicht ganz billig, wird aber gern genommen.“

Interludium I – Auf dem Weg von Megalopolis nach Utopia Platonica

Der Beginn der Wissenschaften und die Hexenjagd

„’Macht Euch die Erde untertan.’ Hast Du das schonmal gehört?“ Ich nicke stumm. „Und hast Du auch das schonmal gehört?“, fragt die Wilde Frau weiter. „’Bin ich doch zu dir gekommen, dass ich die Natur und alle ihre Kinder gebunden vor dich führe, damit sie dir dienen und du sie zu Sklaven machst.’“

„Was ist das denn ?“, fragt Frieda entsetzt. Die Wilde Frau war nicht zu überhören.

„Das ist der Beginn der modernen Wissenschaften à la Sir Francis Bacon und die hohe Zeit des großen Wütens gegen die Hexen“, erklärt uns sie Wilde Frau mit ernster Miene. „Die Natur wird zur rasenden Megäre, der sich die Helden entgegenstellen, um die Welt zu retten. Die ‚aufgeklärten’ Geister und ‚vernünftigen’ Welterklärer brauchen starke Gegenbilder zu ihren windschiefen Gedankengebäuden. Die Hexen gefährden ihr Weltbild und ihre Macht, und der kirchlich geschürte Hexenwahn erreicht seinen Höhepunkt in einer Zeit, die sie ‚Renaissance’ nennen. Bacons Chef und Mäzen, James I., war ein besonders tüchtiger Hexenjäger und Totschläger, und so wie die Hexe mit mechanischen Vorrichtungen gefoltert werden muss, um ihr ein Geständnis zu entringen, so muss auch die Natur – überflüssig zu erwähnen, dass sie stets als Frau gezeigt und beschrieben wird – gefoltert werden, um ihr ihre Reichtümer zu entlocken. Frau und Natur sind nur noch Ressource. Der Leib ist böse, so wie die Natur böse ist. So, wie die Natur wird als Frau angesehen wird, wird die Frau als Natur betrachtet, ohne Geschichte, ohne eigenen Willen, ohne Rechte, während die Mörder sich sich selbst dem Reich der Vernunft zugehörig fühlen.“

Seufzend lässt die Wilde Frau sich in die Kissen sinken. „Ich brauche jetzt was zu essen.“ Wie aus dem Nichts erscheint Arcimboldo an ihrem Platz und hält ihr reich gedecktes Tablett unter die große Nase.

„Dieser Bacon“, flüstert Rabe mir zu. „Soll seine schmutzigen Finger besonders in Utopia Platonica im Spiel haben.“ Wir werden sehen.

„Die Mörder fühlen sich dem Reich der Vernunft zugehörig“, wiederholt Karl. Er klingt verwirrt. „Wie meinst Du das?“, fragt er die Wilde Frau, die inzwischen intensiv mit Arcimboldos Spezialbuffet beschäftigt ist. „Und was hat das alles mit dem Weltenlenker zu tun?“

Die Wilde Frau zeigt schmatzend auf Farrand, der den Wink versteht und die Geschichte weitererzählt.

„Die frommen und gelehrten Kirchenmänner erfinden das tödliche Märchen vom Fortschritt, der den Aberglauben besiegt. Sie sind die ersten, die das tun, lange, bevor so etwas wie „Wissenschaft“ überhaupt erfunden war. Sie erfinden das Gefälle zwischen dem, was sie unter ‚Vernunft’ verstehen und dem, was ihre Epigonen seit jeher ‚irrational’ nennen. Damit überlagern sie den alten Leib-Seele-Dualismus et voilà: hier der Geist, da der Rest, Leib und Weib. Und die sogenannten Aufklärer, die sich selbst später gegen die Kirchen in Stellung bringen, halten mit großer Selbstverständlichkeit an diesem Märchen fest. Ja, sie treiben es sogar auf die Spitze.“

(…)

„Die Trennung von Leib und Seele ist ein besonders böses Erbe in der Gefälschten Welt“, fährt er fort. „Sie fordert unzählige Opfer und bringt unermessliches Leid über zahllose Menschen. Sie fälscht das Denken und macht es vollkommen unsinnig und sinnlos. Aber natürlich wissen sie, wie grotesk ihre himmlische Geisterbahn ist, wie sehr das alles jeder menschlichen Erfahrung und Vernunft widerspricht, wie sehr das alles gelogen ist.“

„Deshalb sind sie so brutal“, nimmt Jasper den Ball auf. Farrand pariert. „Seit Rom christlich ist, wüten sie, dass kein Stein auf dem anderen bleibt. Sie zerstören Tempel und Kultstatuen und verbieten sogar private Hausopfer. Sie zerstören in blinder Raserei, nichts und wieder nichts neben sich duldend. Wohin auch immer sie vordringen, verbieten sie Volkskulturen, Bräuche und abweichende Meinungen und setzen die Verbote mit brutaler Gewalt durch. Sie verbieten alles, was schwer unter Kontrolle zu bringen ist, alles, was laut und frech ist. Alle die derben Lieder, die Witze, die Spektakel, das geheime Tun in den verborgenen Winkeln der Städte. Sie wollen den ewigen Kreislauf des Lebens zerstören und wofür? Für eine Komplexitätsreduktion, für ein allzu simples lineares Denken, das nur einen einzigen Weg zur Erlösung kennt. Und was ist diese Erlösung? Am Ende nichts weiter ist als ein Stehplatz in der virtual reality, die sie erfunden haben, damit die armen Teufel die irdische Fron folgsam erdulden, der sie und ihre Kumpane die Menschen unterwerfen. Mit der Angst vor Höllenqualen hält man sie fügsam. In Wahrheit ist bei diesen Leuten sogar die Ideologie nur Fassade. Tatsächlich sind sie alle Nihilisten.“

(…)