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Goodfellows Reportagen

Das transkulturelle quantenmetalogische Forschungsprojekt

Von Thymian Bennet Goodfellow
Paraty, Mai 20 --

Es ist eine Weile her, dass ich in dieser Weltgegend war. Damals ging es um ein Buch, das ein befreundeter Verlag herausgeben wollte. Man suchte eine solide Anschauung der Wirklichkeit, um der grassierenden Theoriebildung in allen gesellschaftlichen Fragen des In- und Auslandes entgegenzutreten. Diese Theoriebildung breitete sich umso mehr aus, je deutlicher sich zeigte, dass besagte Theorien beim Aufprall auf die Wirklichkeit zu Trümmern zerschellten. Bei Gelegenheit der Buchrecherche lernte ich auch André Bernik kennen. Bei der überraschenden Nachricht von seinem Tod ahnte ich nicht, dass ich selbst einmal zu einer Überraschung würde.

 

„Der Tod unseres Kollegen Professor André Bernik reißt eine schwer zu schließende Lücke in unsere Reihen und erschüttert uns zutiefst."

In tiefer Trauer nehmen wir Abschied von einem Freund und verehrten Forscher, der vor vier Tagen auf bislang ungeklärte Art in Paraty, Brasilien, ums Leben kam. Wir erhielten die schreckliche Nachricht von einem bestürzten Mitarbeiter, der uns sofort mit tränenerstickter Stimme informierte, als die grausame Wahrheit ans Tageslicht gekommen war. Bei einer Tagesexpedition ins Hinterland der Küstenstadt kam Bernik mit einem Baumsteigerfrosch (Dendrobatidae) in Berührung und starb bald darauf unter schrecklichen Schmerzen. Wir sind zutiefst erschüttert, dass wir zudem keine Gelegenheit haben werden, seine sterblichen Überreste nach Hause zu bringen. Denn – noch im Todeskampf – fielen Raubtiere der Region über ihn her. (Aus Gründen der Pietät sehen wir davon ab, weitere Einzelheiten zu schildern.) Sein Tod ist besonders tragisch, da in wenigen Wochen eine Delegation renommierter Fachkollegen nach Paraty reisen wollte, um Bernik bei der Vorbereitung eines großen internationalen Kongresses zur intersektionell-quantenliguistischen Forschung vor Ort zu unterstützen.

In unserer Trauer freuen wir uns dennoch, dass der Herr Bundespräsident unseren Kollegen einen großen Forscher nannte, der sich “unsterbliche Verdienste um die transkulturelle auswärtige neurowissenschaftliche Identitätspolitik” erworben habe.

Soweit die gemeinsamen Beteuerungen aller kulturneurologischen und identitätslinguistischen gelehrten Gesellschaften. Es versprach, ein interessanter Fall zu werden. Die Redaktion beschloss, mich auf die Reise zu schicken, da ich sowohl die Gegend als auch den Mann kannte.

Auf dem langen Flug machte ich mich mit Berniks Projekt vertraut. Es lief seit insgesamt vier Jahren und war überaus großzügig ausgestattet, weil es – wie es hieß – einen Nerv der Zeit traf.

Berniks Berichte wurden schnell zu Standardwerken der „neurowissenschaftlichen (und zum Teil physikotheologischen) internationalen Identitätspolitik auf Augenhöhe“, da er von Paraty aus ein Netzwerk kleiner Forschungsschwerpunkte und -stationen in der Region aufgebaut hatte, in denen das „Forschen mit statt Forschen über“ das leitende Prinzip der Arbeit sei.

Berichte des hiesigen Fachpublikums lagen keine vor, da Bernik stets darauf hinwies, man müsse gewahr sein, sich Gefährdungen durch Giftfrösche, ebensolche Schlangen, große Hitze und außergewöhnliche Luftfeuchtigkeit auszusetzen, auch die Gefahr, an Malaria oder Denguefieber zu erkranken, sei erheblich. Wegen des „enormen Gefährdungspotentials“ riet er stets dringend von einer Reise in diese „schwierige Gegend“ ab (ich selbst hatte sie anders in Erinnerung“). Er selbst sei aber zum Nutzen der Wissenschaft und im Sinne der Aufklärung bereit, dieses Risiko auf sich zu nehmen. Welche Ironie des Schicksal, möchte man meinen. Muss man aber nicht.

Die majestätischen Wolkentürme, die ich bei einem Blick aus dem Fenster des Flugzeugs erblickte, katapultierten mich zurück in die Wirklichkeit. Es handelte sich offenbar um eine Schule, in der ein mächtiger Luftgeist mit markanter Nase, buschigen Augenbrauen, starkem Kinn und einem Haarschopf wie Beethoven (wenn er mit finsterem Blick als genialer Wilder dargestellt wird) eine nicht ganz kleine Gruppe sehr hübscher und manierlicher Nachwuchs-Luftgeister in der Kunst der Wolkenbildung unterrichtete. Ganz still saßen sie da. Die hellen lockigen Köpfchen aufmerksam in die Höhe gereckt. Gewiss würde ein jedes einzelne von ihnen eines Tages eine Zierde ihrer Art werden. Dafür würde ihr Lehrer sorgen. Nur ungern riss ich mich von dem erhabenen Anblick los und setzte meine Lektüre fort.

Es ging um nichts weniger als „menschliche Kommunikation“ im weltweiten Maßstab, vor allem auch unter Berücksichtigung von Affektmodellierungen und alltagsästhetischen Moden – Fragestellungen, bei denen natur- und kulturwissenschaftliche Forschungen sich vielfältig ergänzen und überlagern.

Bernik plant – so erklärt er in einem Papier – den Aufbau eines interdisziplinären Labors als eine neue virtuelle und reale Architektur des Wissens, an dem Geistes-, Natur- und Technikwissenschaften gleichermaßen beteiligt sind.

Damit verspricht man sich entscheidende Fortschritte in der internationalen transkulturellen neurowissenschaftlichen Identitätspolitik auf der Basis u.a. quantensoziologischer Untersuchungen.

Methoden seien unter anderem die Verschränkung des Digitalen mit dem Materiellen zum tieferen Verständnis des neotextuellen Nationalismus und neuerer identitätslinguistischer Phänomene. Darüber hinaus arbeite man erfolgreich mit Methoden des kulturellen De-Konstruktivismus. Auf quantensoziologischer Ebene sei zudem in nächster Zeit mit Sprunginnovationen zu rechnen, mit denen man populistischen Tendenzen und der Verbiegung der Fakten entschieden entgegentreten könne und werde, um so auch objektsprachlich-axiomatische und metasprachlich-operative Fragen abschließend klären zu können.

Ich brauchte eine Pause, eine gehaltvolle Mahlzeit, einen Kaffee und einen Schnaps.

Den Rest des Fluges vergnügte ich mich mit einem alten Mickymausheft, das vielleicht einmal ein fröhliches spielendes Kind liegenließ oder das ein passionierter Sammler einst verlor.

Die Busreise von São Paulo nach Paraty verlief störungsfrei, wenn auch etwas eintönig. Ich hatte ein Hotelzimmer in der Altstadt gebucht, wo die buckeligen Pflastersteine der Straßen den Ballastspeichern alter Piratenschiffe entstammen. Bereitwillig erklärte ich meinen Gastgebern, warum ich ihre schöne Stadt besuchte. Doch von einem derartigen Institut und einem ‚profesor alemão’ namens Bernik hatten sie noch nichts gehört. Ich kann nicht sagen, dass mich das besonders wunderte.

Am nächsten Morgen machte ich mich, ausgestattet mit Wegbeschreibung und Plan, auf den Weg zu Berniks Institut. Die Adresse lautete Straße des 22. April, abseits vom Stadtzentrum an einer kleinen Bucht. Ich erreichte ein zweistöckiges Gebäude, das lebhaft blau und orange angestrichen war und keinerlei Anzeichen wissenschaftlicher Betätigung aufwies. Aber auch das wunderte mich noch nicht. Meine alte Universität unterhielt eine große Anzahl gewöhnlicher, immer leicht verfallener Häuser, denen man auch keine Gelehrsamkeit ansah. Ich betrat das Anwesen durch ein kleines Tor und entdeckte linkerhand munter schwatzende Menschen, die offensichtlich beim Frühstück saßen. Eine Kantine? Nach einer Minute kam eine freundlich aussehende Dame auf mich zu und schüttelte bedauernd den Kopf, bevor sie sprach. „Tut mir sehr leid, Senhor, wir sind vollkommen ausgebucht.“

Verwundert zeigte ich ihr die Adresse und fragte nach dem Bernik-Institut. Sie lachte. Nein, sie seien ganz bestimmt kein Forschungsinstitut. Ob ich vielleicht einen cafezinho möchte? Ich nahm das Angebot dankend an in der Hoffung, etwas Licht ins Dunkel zu bringen. Die freundliche Wirtin, sie hieß Rita, rief ihren Mann Tèus herbei. Aber auch er wusste nichts von einem Bernik oder einem Forschungsinstitut. Ein spektakulärer Todesfall mit Froschgift sei ihnen nicht untergekommen. Dann hatte er eine Idee und begann zu telefonieren. „Mein Cousin arbeitet bei der Polizei“, erklärte er, und  nach dem kurzen Gespräch teilte er mir bedauernd mit: „Sie wissen nichts von einem Ausländer, der durch Froschgift gestorben ist.“

Plötzlich schlug er sich an die Stirn. Es müsse eine Verwechslung der Straßennamen sein. Also breitete ich meinen Plan aus und ließ mir zeigen, was er meinte. Die Straße des 22. April lag nicht weit hinter dem nächsten Hügel. Aber ich war in der Straße des 7. April geraten. Ich verließ das Haus mit dem Versprechen, das nächste Mal bei ihnen zu buchen und machte mich auf die Suche nach dem 22. April. Kaum war ich ein paar Schritte gegangen, als der freundliche Wirt mich anrief und mir Zeichen machte, zu warten. Er gab mir einen Zettel mit einem Namen. Frederico Battista sei ein bedeutender und gebildeter Bürger der Stadt. Wenn einer es wüsste, dann er. Er wohne in einer Villa außerhalb der Stadt. Jeder Taxifahrer kenne den Weg.

In der Straße des 22. April gab es weit und breit kein Forschungsinstitut, und ich muss zugeben, dass auch das mich nicht mehr wunderte. Ich ging gemächlich zurück ins Stadtzentrum und beschloss, mich dort noch weiter umzuhören.

In einem Café mit offener Veranda und kleiner Bibliothek machte ich eine Pause, um mich zu sammeln. Was war hier los?

Mein offensichtlich verwirrter Ausdruck zog die Aufmerksamkeit anderer Gäste auf mich, und in landestypischer Freundlichkeit fragte eine elegante Dame mit halber Lesebrille, ob sie helfen könnte. Ihr volles schwarz-graues Haar wurde von einem schmalen Reifen aus der Stirn gehalten. In ihren dunklen Augen blitze ein lebhaftes Feuer.

„Kennen Sie das Institut für transkulturelle neurowissenschaftliche Identitätspolitik?“, fragte ich, nachdem ich mich vorgestellt hatte. „Es ist Sitz eines internationalen Forschungsprojekts, das mit Sitz in Paraty einschlägige Konferenzen an vielen Stellen des Kontinents veranstaltet. Der Direktor war Professor André Bernik. Er ist kürzlich im Hinterland durch Froschgift ums Leben gekommen.“

Die Dame betrachtete mich nachdenklich, als überlege sie, ob mir vielleicht die Hitze nicht bekäme. „Mein Name ist Iris Vanzetti“, stellte sie sich vor. „Ich bin pensionierte Professorin für ganz altmodische Anthroplogie und lebe seit sechs Jahren hier in Paraty.“ Ich ahnte, was kam. Sie schüttelte den Kopf. „Von einem Bernik oder einem solchen Institut habe ich noch nie etwas gehört.“ Nach einer Weile entschloss sie sich, eine Frage zu stellen, die sie zuvor wohl hatte vermeiden wollen. „Was soll das überhaupt sein?“

So gut ich konnte, fasste ich zusammen, was ich mir unterwegs angeeignet hatte. Iris legte den Kopf schief und hörte mir aufmerksam zu. Ihre Lippen kräuselten sich, obwohl sie sichtlich versuchte, es zu vermeiden. Sie nestelte am Kragen ihres smaragdgrünen Seidenkleids und schob ihre Kaffeetasse hin und her. „Ich verstehe“, meinte sie trocken. „Postmoderne modale Quantenmetalogik im transkulturellen Kontext.“

Ich fragte Iris, ob ich ihr einen Kaffee ausgeben dürfe. Sie bevorzugte einen Mojito, den sie täglich kurz vor dem Mittagessen zu sich nahm.

„Kennen Sie einen Frederico Battista?“, fragte ich in einer plötzlichen Eingebung. Sie seufzte, sah mich lächelnd an und nickte. „Wer kennt ihn nicht? Battista ist eine große Nummer, obwohl er erst seit ein paar Jahren in der Stadt ist. Soll wohl aus dem Süden kommen. Er hat eine große Villa am Stadtrand, fährt ein dickes Auto, und weil er für Waisenhaus und Kirchenglocken spendet, stellt niemand Fragen, woher sein Geld kommt.“

„Ah, Ihr redet über unseren lieben Frederico“, bemerkte ein gut aussehender Mann mit hellen klugen Augen von etwa 45 Jahren, der an den Tisch getreten war. „Er ist gerade auf dem Weg zu seinem Boot.“ Ich sprang auf und trat auf die Veranda, um noch einen Blick auf ihn erhaschen zu können, aber ich war zu spät. Iris erklärte dem Neuankömmling mein Anliegen und stellte ihn mir spöttisch als „unseren Dorfarzt“ mit Namen João Silber vor. Unnötig zu erwähnen, dass auch er noch nie von Bernik oder seinem Institut gehört hätte. „Ein Todesfall durch Froschgift? Das hatten wir hier seit Jahrzehnten nicht mehr.“ Dafür wusste er einiges über Battista zu erzählen, der ein Lieblingsthema des Doktors zu sein schien, und sein Bericht war nicht gerade von Sympathie getragen. Er war überzeugt davon, dass die Meisten den Mann lieber loswären.

„Ach, Du übertreibst mal wieder mit Deinen ‚Machenschaften’“ meinte Iris. Aber João bestand darauf, dass Battista ein zwielichtiger Zeitgenosse sei, der auf seinen Plantagen im Norden die Landarbeiter nach Strich und Faden ausbeute. Iris nickte nachdenklich. „Jetzt, da Du es sagst. Davon habe ich auch gehört.“

Plötzlich entschuldigten sie sich, dass sie ganz vom Thema abgekommen seien und versprachen mir, sich umzuhören. Dafür lud ich sie für den Abend zum Essen ein und freute mich auf interessante Gesellschaft.

Der guten Ordnung halber machte ich noch einen Versuch, an zentraler Stelle nach Bernik zu fragen und ging ins Rathaus. Falls hier jemand ein Forschungsinstitut betrieb, sollte doch wenigstens die Stadtverwaltung davon wissen. Diesmal musste ich lachen, als man mir versicherte, absolut gar nichts von einem Senhor Bernik oder einem Forschungsinstitut dieses Namens zu wissen. Ob ich es womöglich mit dem Forschungsinstitut für Meeresbiologie in Ubatuba verwechsele …?

Von meinem Hotel aus rief ich Berniks Universität an, um mich für alle Fälle noch einmal aller Daten zu vergewissern. Die Anschrift stimmte, die Mailadresse und auch die Telefonnummer. Erwähnte ich schon, dass meine Kontaktversuche auf diesen Kanälen erfolglos waren? Die Webseite des Instituts enthielt übrigens im Wesentlichen nichts weiter als die Angaben aus der Antragsphase des Projekts sowie einige abstracts von Konferenzberichten.

Ich erfuhr außerdem, dass eine offizielle schriftliche Bestätigung der brasilianischen Behörden noch nicht vorläge. „Nein, außer dem Anruf des Mitarbeiters haben wir keine Informationen. Es scheint da Verzögerungen zu geben“, erklärte eine Universitätssprecherin. „Aber man weiß ja, wie die da unten sind.“

„Wie sind die da unten denn“, fragte ich interessiert.

„Na, Sie wissen schon. Sie sind doch da. Oder nicht?“

„Oh ja, aber ‚die da unten’ habe ich noch nicht getroffen. Deshalb: Nein, tut mir leid. Ich weiß es nicht.“ Ich beendete das Gespräch und wählte anschließend die zuständige Nummer in einer der großen Fördereinrichtungen des Landes, die Berniks Projekt über Jahre großzügig ausgestattet hatte. Vielleicht konnte man mir dort weiterhelfen. Dort erfuhr ich nur, dass der Folgeantrag vor kurzem bewilligt worden sei und dass die entspechenden Mittel wie auch die Fördersumme für die Konferenz bereits überwiesen seien, nachdem Mitarbeiter Berniks versichert hatten, das wichtige Vorhaben im Geiste ihres Chefs fortführen zu wollen. Man habe nur darauf hingewiesen, dass die Konferenz noch ein wenig verschoben werden müsse.

Das Geld sei ordnungsgemäß und wie gewohnt im Rahmen der üblichen Mobilitätsabkommen an die Partneruniversität in Brasilien überwiesen worden, damit es dem Bernik-Institut dort zur Verfügung stehe. Auf Nachfrage ließ man mich wissen, dass es sich um die Universidade Santa Maria in Tocantins handele.

Ich hatte von einer Universidade Federal de Santa Maria in Rio Grande do Sul gehört, aber in Tocantins?

Das war ziemlich weit weg, passte aber hervorragend zum übrigen Ergebnis meiner Recherchen, fand ich. Es blieb mir wohl nichts anderes übrig, als den rätselhaften Senhor Frederico Battista aufzusuchen. Die Erfahrung lehrt, dass zwielichtige Gestalten die besten Auskünfte über zwielichtige Angelegenheiten geben können. Ich ließ mir an der Hotelrezeption eine Wegbeschreibung geben und machte mich auf in die Höhle des Löwen. Ganz zufällig passierte ich dabei die Praxis von Doktor João, der mit durch ein Fenster freundlich zuwinkte. „Wohin des Weges?“, rief er mich an. „Battista“, sagte ich nur kurz. João stürzte aus der Tür. „Sei um Himmels Willen vorsichtig!“ Er sah mich bittend an, und zu meiner Bestürzung erkannte ich, dass João wirklich Angst hatte. „Sag es ihm bitte nicht, wenn Du dort bist, aber die … entschuldige.“ Von drinnen kam ein lautes Schimpfen und mit einem verwirrten Kopfschütteln ließ der Doktor mich stehen. Ich hatte mich entschlossen, zu Fuß zu gehen, obwohl die Temperatur etwas anderes empfahl. Aber im Gehen kann ich gut nachdenken – und nachdenken musste ich.

Nach einer halben Stunde erreichte ich die berühmte Villa des Frederico Battista. Es kommt vor, dass reiche Brasilianer ein wenig übertreiben, wenn es um die ästhetische Gestaltung ihrer direkten Umgebung geht. Aber was ich hier sah, ließ mir den Mund offenstehen. Das dreistöckige Gebäude sah aus wie einer der überladenen Berliner Kudamm-Kästen der Wilmersdorfer Millionenbauern, die mit mehr Geld als Geschmack ihre Häuser über und über mit Antikenkitsch beklebt hatten. Greife, Atlanten, Karyatiden, Stuckrosetten, eine dorisch-ionisch-korintische Kakophonie, Reliefblumenkübel und Palmwedel … ich höre lieber auf. Man betrachtete das Haus und bekam das Gefühl, zu fett gegessen zu haben.

Ich machte den Mund wieder zu und war schon halb entschlossen, einfach umzukehren, als mich die Neugier packte. Ich wollte mir diesen Typen schon gern einmal ansehen. Ich klingelte. Und wartete. Gerade wollte ich mich umdrehen, als die Tür sich öffnete. Auftritt livrierter Diener mit Schnauzbart und halb geschlossenen Augenliedern. „Wer ist da“, hörte ich es von innen rufen, und im selben Moment erschien der Hausherr in der Tür und schob den Diener zur Seite.

Für einen Moment hielt ich die Luft an und ballte mindestens eine Hand in der Hosentasche.

„Bernik … Sie sind tot.“ Das klang, zugegebermaßen, ein wenig dämlich. Aber auf eine gewisse Art entsprach es ja der Wahrheit. Als nächstes sah ich, wie sich auf dem Gesicht des transkulturellen quantenmetalogischen Lieblings „unseres Herrn Bundespräsidenten“ ein schiefes Grinsen formte und die Augen einen drohenden Blick annahmen.

“Und Sie auch gleich, Goodfellow.“ Im selben Moment zog er eine Waffe und war im Begriff abzudrücken, als er mit einem Schmerzlaut auf der Treppe zusammenbrach. Fluchend hielt er sich die blutende Schulter, und machte einen vergeblichen Versuch zu fliehen. Zwei Polizisten in Uniform hielten ihn nieder, ein dritter in Zivilkleidung verhaftete ihn auf der Stelle.

Mit weit aufgerissenen Augen kam der Doktor auf mich zu. „Das war knapp“, flüsterte er entsetzt. Ich schüttelte seine beiden Hände viel zu lang. Ich war so aufgeregt, dass ich kaum meinen Dank richtig aussprechen konnte. Es war wirklich verdammt knapp. Nachdem die Uniformierten Frederico Battista abgeführt hatten, kam der dritte Polizist zu mir und bat, mir einige Fragen stellen zu dürfen. Es war endlich gelungen, Battista unwiderlegbar des mehrfachen Mordes zu überführen, dessen Motive aber nach wie vor schleierhaft waren. Nun, da konnte ich helfen. Ich berichtete dem dritten Polizsten alles, was ich wusste, wofür ich mir ein kräftiges polizeiliches Händeschütteln verdiente.

Bernik hatte noch mehr Dreck am Stecken. Er hatte in Paraty ein Schreckensregime von Korruption und Schutzgelderpressung errichtet, erfuhr ich außerdem vom Doktor, der sich bei seiner Erzählung unauffällig eine Träne aus dem Auge wischte. Schweigend gingen wir zurück in die Stadt. Die Neuigkeit hatte sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen, und Paraty feierte bis in die Nacht.