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Bilsenkraut

Von Martha Carli | November 2021

Aber bitte, stellen Sie sich jetzt selber vor! Der Neue ging ein wenig in Positur, seinem fahlen Gewand, das mit seinen trüben Farben das typische Kleid der verborgen Lebenden war, entströmte ein unangenehmer Geruch, besonders, wenn er sich bewegte. „Mein Name ist Hyoscyamus niger … ” – „Bilsenkraut“, rief eine Stimme aus dem Hintergrund ein wenig schadenfroh. „Ich bevorzuge Hyoscyamus“, erwiderte Bilsenkraut gereizt. „Es setzt sich zusammen aus hyos und kyamos.“

„Auch nicht besser. Saubohne hahaha, erklärte der etymologisch versierte Rittersporn „Da haben wir’s …“

„Ruhe bitte!“

Bilsenkraut schaute vorwurfsvoll in die Runde. „Darf ich jetzt beginnen, meine beruflichen Fähigkeiten zu schildern?“ Er reckte das Kinn und begann. „Eine meiner bedeutenden Taten war das Hinscheiden der hochwohlgeborenen und sehr reichen Gräfin Schreckenstein. Ein in bitterer Armut lebender Vetter, zugleich Arzt, sann darauf, seinen pekuniär beengten Zustand zu beenden.“ So kam ich ins Spiel.“

„Meine Güte, schwafelt der ein aufgeblasenes Zeug daher“, tuschelte jemand an der Seitenlinie.

„Ruhe bitte!“

Bilsenkraut bedankte sich beim Vorsitzenden und fuhr fort.

„Tatsächlich war ich schon den Babyloniern, im alten Ägypten und im alten Persien bekannt und beliebt. Hier und da arbeitete ich als Pfeilgift. Über meine Rolle im ehrwürdigen Hexenhandwerk war bereits an anderer Stelle die Rede, so dass ich sie nicht weiter ausführen muss.

Eine Sache schmerzt mich, wenngleich ich am Ende doch segensreich wirkte.

Ein ehrgeiziger Heißsporn namens Antonius wollte aus Macht- und Habgier die östlichen Teile des Römischen Reiches immer weiter ausdehnen. Der Widerstand war groß, das Gemetzel fürchterlich. Schließlich musste er sich zurückziehen. Die Vorräte gingen zu Ende und seine Männer wurden irre vor Hunger. Sie aßen Kräuter und Gras und irgendwann fanden sie mich. Ich konnte sie nicht nähren, aber ich konnte sie ihr Leiden vergessen lassen. Sie vergaßen, was sie getan hatten, erkannten einander nicht mehr, und bevor sie starben, vertrieben sie sich die Zeit damit, mit großem Ernst die Steine auf dem Felde umzudrehen.

Ich weiß, ich soll nicht urteilen. Aber sagen Sie selbst. Wie sinnlos. Wie unehrenhaft.

Nun denn. Einmal, viel später bekam bekam ich eine Rolle im Fernsehen. Es war ein Desaster!“ Bilsenkraut machte eine dramatische Pause, die ihre Wirkung nicht verfehlte. „Wenn ich gewusst hätte, dass diese Fernsehleute die Art meiner Wirkung einfach erfanden, anstatt sich sachkundig zu machen, hätte ich niemals zugestimmt, mitzuwirken.“

„Ich weiß, was Sie meinen“, meldete sich der Schierling zu Wort. „Auch ich hatte einmal einen kurzen Auftritt in einem Film, in dem ich eine ganz unwichtige Nebenrolle umbringen sollte. Die Schilderung der Vergiftungserscheinungen war absurd falsch. Der Mann lief geschlagene drei Stunden in der Gegend herum – als ob er das noch gekonnt hätte.“

„Ich finde auch, die Leute sollten sorgfältiger sein“, rief die Giftbeere dazischen. „Schließlich haben wir eine Berufsehre“. Jetzt machte sich lebhafte Zustimmung im Saal breit. Jeder der hier Anwesenden hatte schon die eine oder andere Verleumdung oder Verwechslung über sich ergehen lassen müssen. Das würde man nicht länger dulden.

Das kriminalbotanische Konzil dauert an. Man findet, dass die allgemeine Verwahrlosung auf allen Ebenen ein erschreckendes Ausmaß angenommen hat. Insbesondere ist die Kunst des kultivierten Mordens mit Pflanzengiften gegenüber brutalen und ausgesprochen dummen Methoden ins Hintertreffen geraten. Dem will man entgegentreten. Es wurde uns freundlicherweise erlaubt, an dieser Stelle einige der Konzilsteilnehmer vorzustellen und Ausschnitte ihrer Auftritte wiederzugeben.

Das Schwarze Bilsenkraut ist eine krautige Pflanze mit dicken Stängeln, breiten, länglichen, eingeschnittenen, dunklen, rauhen Blättern. Sie ist ein wenig zottig und klebrig behaart.

30 bis 60 Zentimeter Höhe kann sie erreichen, selten über einen Meter. Bilsenkraut blüht von Juni bis Oktober, die Blüten sind schmutzig weißgelblich mit violetten Adern. Bei genauer Betrachtung können sie sehr apart wirken. Die Frucht ist eine bauchige anderthalb Zentimeter lange Deckelkapsel, die je 300 bis 400 Samen trägt. Die Samen bleiben über 600 Jahre lang keimfähig.

Bilsenkraut ist in ganz Europa, in Eurasien, Nord- und Westasien sowie Afrika verbreitet. In gewisser Weise gehört das Bilsenkraut zum fahrenden Volk. In Gärten macht es sich nicht gern sesshaft. Es wächst in bunten Gesellschaften, an Wegrändern, auf Schuttplätzen und an Mauern. Am besten gedeiht es in nährstoff- und stickstoffreichen Sand- oder Lehmböden.

Die Fülle der Namen unseres stinkenden Schuttplatzbewohners (es sind die Klebhaare) spricht für weite Verbreitung und lebhafte Anwendung: Zeusbohne, Drachenpflanze, Hypnotikon, Emmanes (rasend machend), Insana (Wahnsinn), Bilselsamen, Binselkraut, Tollkraut, Rasewurz, Hexenkraut, Tollkraut, Schlafkraut, Teufelswurz – und das sind noch nicht alle.

Wahnsinn, Lethargie und Tod ...

Wie bei Tollkirsche und Stechapfel wird des Bilsenkrauts giftige Wirkung hauptsächlich von (S)-Hyoscyamin und Scopolamin verursacht. Die höchste Wirkstoffkonzentration ist in den Samen enthalten, die leicht mit Mohnsamen verwechselt werden können. Kaufen Sie Ihren Kuchen daher nur beim Bäcker Ihres Vertrauens. Falls Sie einmal den falschen Bäcker erwischt haben, kommt es Pulsbeschleunigung, Herzrhythmusstörungen, Bewußtseinsstörungen, Halluzinationen, Verwirrtheit, Bewußtlosigkeit und schließlich zu narkoseähnlichem Schlaf. Auch Weinkrämpfe, Rededrang und Tobsuchtsanfällen zeigen, dass es sich nicht um Mohnsamen handelte. Alles in allem sind alle übrigen Vergiftungserscheinungen denen ähnlich, die bei übertriebenem Genuss von Tollkirschen zu beobachten sind. Allerdings steht beim Bilsenkraut die narkotische Wirkung im Vordergrund. Und diese Narkose kann bei unsachgemäßem Gebrauch endgültig sein. Der Tod tritt ein durch Atemlähmung.

Vorsichtig dosiert ...

Bilsenkraut löst Krämpfe bei Epilepsie und Asthma, es lindert Husten und andere Atemwegserkrankungen, hilft bei Ohrenschmerzen und Augenentzündungen. Es ist außerdem ein sehr potentes Beruhigungs- und Schmerzmittel, insbesondere bei rheumatischen Erkrankungen. Dazu verwendet man in erster Linie das Öl aus den Samen, aber auch Umschläge aus frischen Blättern.

Für Schmerzstiller presste man den frischen Saft, mischte junge Triebe mit Weizen und buk daraus Brötchen oder formte die Blätter zu Pastillen. Fieber senkte man mit Zubereitungen aus Blättern und Wein – nur als Gemüse gekocht, so hieß es, bewirkte es gelinden Wahnsinn.

Für lange Zeit war Bilsenkraut das Mittel der Wahl, wenn Patienten bei medizinischen Eingriffen in Narkose versetzt werden mussten.

In der Homöpathie wird die ganze Pflanze im blühenden Zustand zur Herstellung der Urtinktur verwendet.

Louis Lewin, Die Gifte in der Weltgeschichte, Köln 2000

Dioskurides, De Materia Medica

Pietro Andrea Mattioli
„Commentarii in sex libros Pedacii Dioscoridis“

Deutsche Übersetzung: New Kreüterbuch || Mit den allerschönsten und artlich-||sten Figuren aller Gewechß / dergleichen vor-||mals in keiner sprach nie an tag kommen., übers. von Georg Handsch, Prag 1563

Hieronymus Bock
New Kreütter Bůch von underscheydt, würckung und namen der kreütter so in Teütschen landen wachsen. Auch der selbigen eygentlichem und wolgegründetem gebrauch in der Artznei, zů behalten und zů fürdern leibs gesuntheyt fast nutz und tröstlichen, vorab gemeynem verstand.

Roth Daunderer Kormann, Giftpflanzen – Pflanzengifte, Hamburg 2012 (neueste Auflage)

John Mann, Mord, Magie und Medizin – Aus dem Giftschrank der Natur, Stuttgart 1995

Hieronymus Bock weiß unter anderem zu berichten, dass Bilsenkraut zum Fischfang diente: „Also das sie (die Fische) davuon doll werden / springen auff und keren zuletzt das weiß obersich / das sie mit den Händen inn solcher dollheit gefangen werden.“

Aber nicht nur Fische, auch Hühner konnte man auf diese Art fangen (m.a.W. klauen) Man machte ihnen ein Feuerchen mit Bilsenkraut unter ihrer Stange und schon fielen sie bedröhnt herab. „Die Hüner auff den balcken fallen heraber / wann sie den rauch von Bülsen gewar werden.“

Und dann sind da natürlich noch Hamlet und dessen vergifteter Vater.

Vpon my secure hower thy Vncle stole
With iuyce of cursed Hebenon in a Violl, …” (Folio 1)

Seit dem 19. Jahrhundert ist ein ganzer Forschungszweig dazu entstanden, was Hebenon wohl sein könnte. Außer dem Bilsenkraut waren Schierling (hemlock), Tollkirsche (damals enoron ) und noch einige andere im Spiel. Für die deutsche Übersetzung entschied sich Schlegel für Bilsenkraut:

Mit Saft verfluchten Bilsenkrauts im Fläschchen
Und träufelt’ in den Eingang meines Ohres
Das schwärende Getränk!“