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Ansichten eines Schelms

Um es gleich vorweg zu sagen: Ich finde es unverschämt, immer wieder als „mythischer Held“ bezeichnet zu werden. Ja, unverschämt, und es ist mir egal, wie Ihr meinen Ton findet … Mit Helden will ich nichts zu tun haben, weder mythisch noch sonstwie.

Vor allem die jugendlichen und die tragischen Helden finde ich albern. Deshalb imitiere ich sie so gern. Ihr lacht. Täuscht Euch nicht, wenn Ihr über den Quixote lacht, der die albernen Ritter imitiert. Über wen lacht Ihr am Ende wirklich? Ihr bemerkt es meistens erst ein bisschen später. Aber das macht nichts. Überlegt einmal. Könnt Ihr noch einen Ritter sehen, ohne dass der Quixote sich davorschiebt? Hauptsache, Ihr habt eines begriffen: Über Schelme muss man sich nicht lustig machen, über Helden schon.

Nachdem das nun geklärt ist, höre ich auch schon auf zu maulen.

Was ein Schelm ist, wollt Ihr wissen? Na gut. Ein Schelm ist Sommer und Winter gleichzeitig, ist der Coyote als Rabe, der Pfaffe als Esel – oder war es umgekehrt? Vermenger von Lüge und Wahrheit, Herr der Tiere, Idiot, Picaro, Possenreißer und was nicht gar. Ich komme dazu.

Ich, der Schelm, bin lebensdienlich, bringe Zivilisation, Feuer, Ackerbau, Näharbeiten, Erkenntnis, Klugheit, Butterbrote und was man sonst so braucht. Wenn ich die Welt erschaffe, tue ich das nach dem Zufallsprinzip, immer mit Weile und in ständiger Abstimmung mit allen natürlichen Existenzen – nicht mit einem Fingerschnippen vom Himmel herab. Die Methode Versuch und Irrtum habe ich den Menschen abgeschaut, die in Wahrheit auch keine Freunde von Systematik und starren Plänen sind.

Wenn ich in Eurer Nähe bin (und Ihr noch nicht so gut seid im Schelmensehen) müsst Ihr immer mit allem rechnen. Es kann sein, dass ich Euch nach Strich und Faden betuppe. Ich bin der Bürokrat, der die Akten verlegt, der Pfaffe, der den Esel in die Kirche führt, der Minister, der das Licht in Eimern ins Haus trägt. Ich spotte Eurer Götter und Eurer Gewiss-heiten und ich schreibe Eure Zeitungen mit Lügengeschichten voll.

Und glaubt mir: Kein Tabu ist mir je zu heilig, keine Ba-nanenschale je zu deplatziert. Die Anti-Tabu- und Bana-nenschalenmethode eignet sich übrigens besonders gut für moralisch Hochbegabte, notorische Rechthaber und Ein-deutigkeitsliebhaber. Sie rutschen häufiger aus als andere. Allerdings brauchen sie meistens gar keine schlüpfrige Bananenschale, um auszurutschen – was mir durchaus recht ist. Es spart Arbeit.

Ihr wollt jetzt endlich Klarheit? Wer entscheidet, was das ist? Ich sitze zwischen allen Stühlen und wechsele Form und Inhalt, so oft ich will.

Das Eine ist das Böse, sagen meine Freunde, die Sioux. Ich erschaffe die Welt und zerschrote Eure Häuser und nehme Euch Eure liebsten Überzeugungen. Da habt Ihr Eure Klar-heit. Ihr seid ja nur verärgert, weil Ihr mich nicht sehen könnt, ich Euch aber schon. Aber keine Sorge. Ich liebe Euch alle.

Eure Häuser? Ich hätte Eure Häuser zerstört? Und ich hätte gesagt, ich liebte Euch alle? Wie käme ich denn dazu? Euren Häusern ist nichts passiert. Das war nur ein Witz, und Ihr habt ihn geglaubt, weil Ihr so wild darauf seid, dass man Euch bestraft für Dinge, die Ihr überhaupt nicht getan habt, ihr frommen Untertanen.

Ich, der Schelm, bin ein heiliges Wesen, Schöpfer und Witzbold, das Gegenteil meiner selbst, Krähe, Schwindler, heute Rabe, morgen Pfaffe, Clown, Narr, Simplicissimus, Lazarillo, Spaßmacher, Kulturheros, Monster, Geist, Coyote, Fuchs, Hase, Kaninchen, Betrüger, Formwandler, Grenzgänger, Moralverächter, Vermenger von Lüge und Wahrheit, Tabubrecher, Blasphemiker, Ketzer, Tänzer, Sänger, Brüller, Götterbote, Vielfraß, Wilde Frau – kein anmaßender Gott, der aus purer Angeberei Leute quält, so wie einer den armen Hiob gequält hat. Hiob hatte gar nichts falsch gemacht. Er war nichts weiter als ein Versuchskaninchen in einem bösartigen Duldungs- und Gehorsamkeitskult. Seine Freunde ließen ihn im Stich, um einem abstrakten Wesen zu dienen, das ihnen wichtiger war als der notleidende Freund.

Nein, so ein Wesen bin ich nicht. Ich spiele Euch Streiche, damit Ihr nicht träge werdet, ich halte Euch den Spiegel vor, aber ich habe kein Interesse daran, Euch zu quälen, um anzugeben, kein Interesse daran, Euch auseinanderzubringen und Euch dann auch noch ins Schlafzimmer zu gucken.

Bei den Winnebago habe ich einmal einen Wasserfall an eine andere Stelle gerückt, damit die Menschen es bequemer hätten. Ich schickte Ihnen keine Sintflut als Strafe für ihre Sünden. Welche sollten das sein? Wollte ich jedesmal Leute strafen, weil sie angeblich sündigen, käme ich aus dem Wasserschleppen gar nicht mehr heraus. Und was für eine Verschwendung natürlicher Ressourcen.

Sprach ich schon von Zivilisation?

Ich weiß noch, wie ich einmal – ich war als Coyote unterwegs – einen alten Schädel fand. Das war vor der Zeit, als fromme Christenmenschen und Eisenbahnaktionäre den „Wilden“ die Abstraktion, den Doppelwhopper, das Gesangbuch und die Erfindung der Virtual Reality brachten, also dieses Leben im Jenseits als Belohnung für ihre Leiden.

Ich glaube, der Schädel stammte von einem Rothirsch. Ich sah hinein und entdeckte ein Ameisendorf, in dem gerade einen Sonnentanz aufgeführt wurde. Das sah so schön und manierlich aus, dass ich gern mehr sehen wollte. Also machte ich mich klein, um in den Schädel hineinkriechen und besser sehen zu können. Doch irgendetwas hatte nicht funktioniert. Plötzlich hatte ich wieder meine normale Coyotengröße, und mein Kopf steckte in dem Schädel fest.

Da hatte ich eine Idee. Ich wanderte zu einem Dorf und verkündete den Bewohnern: „Ich bin heilig. Ich habe übernatürliche Kräfte. Ihr müsst mir Tribut zollen!“ Die ehr-fürchtig erschrockenen Dorfbewohner defilierten in einer Prozession an mir vorbei, bestrichen mich mit Pollen als Zeichen des Segens. Aber der letzte in der Reihe war ein schlauer Bursche, der hinter seinem Rücken einen Stock verbarg. Als er mich erreichte, schlug er damit auf den Hirschschädel ein, bis er zerbrach und herunterfiel.

„Das hättet ihr schon längst tun sollen“, rief ich ihnen zu. „Aber was wolltet Ihr? Ihr wolltet ja lieber eine übernatürliche Macht anbeten …“

Das war bei den Apachen. Aber ich bin überall auf der Welt zuhause. Wirklich überall. Im Unterschied zum Helden übrigens, denn, anders als der Held, komme ich ohne Ideologie, abstrakte Ideale oder metaphysische Systeme aus. Aber ich will nicht wieder davon anfangen.

Die Menschen sind nirgends scharf auf rachsüchtige Götter, die willkürlich herrschen und Schaden anrichten, nur weil sie’s können. Wirklich nirgends. Sie regeln ihre Angelegenheiten stets selbst, mal mehr, mal weniger friedlich. Meistens friedlich. Einen obersten Moral- und Prinzipiengeber brauchen sie nicht und haben sie nie gebraucht. „Moralische“ Widersprüche gehören zum Leben und lassen sich oft nicht in Gut und Böse trennen. Menschen halten das aus, und sie handeln es aus. Sie haben konkrete Probleme und finden konkrete Lösungen. Der Obrigkeit das letzte Hemd zu geben für einen Stehplatz im Jenseits, gehört nicht dazu. (Ja, ich weiß, es gibt Gegenden in der gefälschten Welt, in der zu viel Prinzipienmoral, zu viel Gehorsamslust und zu viele Pfaffen und Eisenbahnaktionäre die Menschen schlimm deformiert haben. Wer weiß, ob sie noch zu retten sind. Aber das soll nicht meine Sorge sein.)

Ich erzähle lieber noch eine Geschichte. Manche Schamanen sind geschickte Bauchredner. So machen sie den Leuten vor, der Raum sei voller Geister. Die Priester brauchen solche Tricks nicht mehr. Sie behaupten einfach die Anwesenheit der Geister, und wehe, jemand zweifelt daran. Der nächste Scheiterhaufen ist nicht weit, und auf einmal ist kein Schelm mehr da, der sich über Schamanen, Priester und andere Obrigkeiten lustig macht.

Nun, ich tat es einmal und imitierte mit Bauchrednerei einen Schamanen, um der Großmutter vorzugaukeln, ich hätte viele Gäste. In Wahrheit wollte ich einfach nur alles allein aufessen. Oh, wie unmoralisch! Schon vergessen? Über wen lacht Ihr, wenn Ihr über mich lacht, wenn ich den Helden imitiere?

Schamanen und Priester singen Euch vom Jenseits. Ich helfe Euch, Eure Probleme im Diesseits zu lösen.

Bibeln, Eisenbahnaktien und die Halluzinationen des Teufels

Man setzt mir zu. Mit Bibeln und Eisenbahnaktien, glühenden Eisen, Diffamierung, Denunziation und jeder Menge Feuer. Jedes Mal, wenn die Agenturen für Eindeutigkeit erscheinen, wird es ungemütlich für mich. Brutal sogar. Die Kirchen und die Magistrate und ihre Freunde und Helferlein tun, was sie können bis zur Selbstlosigkeit – müssen sie doch bei der Bekämpfung der Schelmerei und ihrer Freunde immer wieder von ihren hehrsten Grundsätzen absehen.

Diese Grundsätze verbieten es den frommen Prälaten und moralisch Hochbegabten zwar, Mord und Totschlag, Dif-famierung und Denunziation, Brandschatzung und Kon-fiszierung einzusetzen, um ihre Ziele zu erreichen. Aber dem wilden Treiben der Volkskulturen mit tausend Sprachen und noch mehr Verkleidungen bei unzähligen Festen und Karnevalsumzügen muss Einhalt geboten werden, um die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Die Einheit im Geiste muss gesichert sein. Das Lachen muss zum Verschwinden gebracht werden. Ihre höchsten Götter lachen auch nicht, erklären sie. Alles andere sei Aberglauben und Halluzination und des Teufels, das Böse schlechthin, das vom Guten mit immerwährender Verkündigung der einen Wahrheit, mit eiserner Faust, mit Feuer und mit dem Zehnten bekämpft werden müsse.

Sie denken, sie wären uns damit los. Sie vergessen aber – oder sie haben es nie gewusst – , dass das Leben immer widersprüchlich, unübersichtlich, unvorhersehbar, unzählbar und unmessbar ist – und dass wir diejenigen sind, die sich darin auskennen, die die dadaistische Energie des Lebens nutzen und daraus Zivilisation machen können – und dass sie es nicht können.

Wir sind die lachenden Dritten, die sich über die Schädel-stätten der Dichotomien und Dualismen erheben, zuhause im unendlichen Universum dazwischen, darunter und darüber.

Und während sie ihre lachhaften Heldendramen mit all ihrem pastoralen Kitsch aufführen, spielen wir die Komödie des Lebens, in der alle die pathetischen großen Gefühle und der institutionalisierte Sinngebungszwang nichts verloren haben, es sei denn als Witz.

Als ehrbare Schelme helfen wir anderen, sich der gefälschten Welt zu entziehen und den Weg in die Wirklichkeit zu finden. Wir retten die Hexen vor der Inquisition – und damit vor dem sicheren Tod.